Wolfgang Heine, Berlin

Zu den Steintransformationen von Thomas Zwillinger



So hat der Künstler sein Werk geschaut und erdacht und hat es in dichterischer Begeisterung im Stein verwirklicht.
(„Vom glänzenden Stein“, Johann van Ruysbroeck)

Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer siegt, dem werde ich von dem verborgenen Manna geben. Ich werde ihm einen weißen Stein geben, und auf dem Stein steht ein neuer Name, den nur der kennt, der ihn empfängt. Ein fleckenloser Spiegel, darin alle Dinge leben.
(„Offenbarung des Johannes“, Kapitel 2.7)

Was spiegelt sich in einem Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt?
(„Der Spiegel im Spiegel“, Michael Ende)


Was veranlasst einen Künstler dazu, mit Steinen zu malen? Steinfunde, gesammelt bei der Suche nach sich selbst. Steinzeichen verwandelt in Lebenslinien. Harte Muster nach und nach weich gezeichnet, geformt zu geometrischen Abbildern von universellen Gesetzmäßigkeiten. Wer die Steine so zu lieben gelernt hat, versteht einzudringen in tiefste Wahrheiten. Seit Menschengedenken verehren Gläubige der unterschiedlichsten Religionen heilige Steine. Steine haben einen bedeutenden Platz in rituellen Handlungen. Der Stein des Gottes Dusares, der Stein von Bet-EI, den die Kanaaniter als Wohnsitz des Gottes El verehrten, der Benben-Stein in Heliopolis, der schwarze Stein an der Kaaba, wenige Beispiele von Bedeutung. Steine sind alles andere als tote Materie. Sie sind Informations- und Energieträger. Aus ihnen wurden die ersten Werkzeuge entwickelt, die ersten heiligen Plätze markiert und die ersten Altäre erbaut. Sie dienten als Kultobjekte oder Schmuckstücke, waren und sind Heil- oder Kraftobjekte. Die Menschen unterschiedlichster Kulturen maßen den Steinen eine anbetungswürdige Bedeutung zu. Sie sahen und fühlten hinter der „toten“ Materie eine lebendige und bedeutsame Kraft, deren Einfluss auf das persönliche Dasein nicht hoch genug zu schätzen war. Eine Ordnung stiftende, heilige Energie. Und sie spürten, dass eine Kraft tief in ihrem eigenen Inneren sie mit der Materie dieser Steine verband. Das eigene Selbst konnte sich bei der Anbetung dieser Steine aufladen und neu strukturieren. Der Dialog mit einem solchen Stein war ein Gespräch mit Gott. Wir „Aufgeklärten“ mögen darüber schmunzeln. Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, erkennen wir, wie sehr wir unbewusst immer noch mit diesen Vorstellungen verbunden sind. Und gehen wir dieser Sehnsucht nach, werden wir ruhig, sammeln uns, und finden Ordnung im Chaos unserer zersplitterten Gefühlswelt. Steinzeichen werden zu Wegweisern in unseren inneren Labyrinthen. Der Maler, Fotograph und „Bildhauer“ Thomas Zwillinger sammelt seit vielen Jahren Steine. Unbewusste Impulse nehmen dabei eine Beziehung mit der Welt der Steine auf. Er sieht die Steine mit den Augen eines Kindes. „Seine“ Steine erzählen ihm Geschichten, Romane über die Entstehung der Welt, Erzählungen über die Struktur und Herkunft der Seele, Märchen über den tiefsten Sinn kosmischer Gesetze. Die Steine erzählen und Thomas Zwillinger hört zu. Er begreift die Fülle, die sich in kleinsten Spuren verbirgt. Er ist ein Seher des Kleinen und Unscheinbaren. In ihm vereint sich die Achtsamkeit für das Ungesehene und Unbedeutende, und die meditative Aufmerksamkeit für die Schönheit eines Punktes, einer Linie, einer Farbschattierung, eines Fleckes, einer Krümmung, eines Schattens, einer Lichtbrechung, einer Verletzung, einer Kante, eines Übergangs, den Spuren des Alters und den Geschichten aus einer Jahrtausende alten Vorzeit. Er „vernimmt“ im blinden Rauschen der Steine die Melodie der Ewigkeit, den Rhythmus der Unendlichkeit. Thomas Zwillinger ist ein Schamane. Er heilt die Brüche, das Chaos unserer Zeit. Bereits seine Malerei aus den 80er Jahren führt den Betrachter in die archetypische Welt der Bildersprache früher Kulturen. Die Seele erhält durch ihn einen Ausdruck für die Tiefe ihres Schweigens. Endlich sehend darf die Seele im Tanz sich selbst begegnen. Thomas Zwillinger hat die Zeichen und die Sprache für diesen Tanz wieder entdeckt. Seine Steinzeichen, Spiegelungen aus dem Ursprung, sind eine Weiterentwicklung und Vertiefung dieses seelischen Alphabets. Ornamente, Bänder, Vielecke, Labyrinthe, unendliche Variationen des einen großen Themas: wie konnte das Nichts zum Schöpfer der Abermillionen Lebensformen auf der Erde, wie im Universum werden? In hunderten von Steinbildern werden wir Zeuge eines komplexen und doch winzigen Ausschnittes dieses Schöpfungsprozesses. Indem Thomas Zwillinger aus kleinsten Spuren seiner Steinfunde durch vielfältige Spiegelungen ein neues Antlitz schafft, erschließt sich dem Betrachter die Antwort auf die Frage von Michael Ende: Was spiegelt sich im Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt? Es ist die Unendlichkeit, ein Weg, der uns tiefer und tiefer in unsere innerste Welt führt. Zwillingers Steinmetamorphosen, Hymnen einer Verwandlung, stiften Ordnung im Chaos, sie glätten die stürmischen Wogen, die unsere rastlose Zeit im Gefüge unserer Psyche aufgeworfen hat. Aus dem Allerkleinsten, über geduldige kleine Schritte und Wiederholungen, zu immer größeren und komplexeren Strukturen zu finden, ist Aufgabe und Vorbild zugleich. Selbstverwirklichung und seelische Wandlung bedürfen dieser Instrumente. Schon wie im Gleichnis Jesu vom Senfkorn, das Große aus dem Kleinsten entsteht, so finden wir in Zwillingers Kunst eine bildhafte Entsprechung dieses Prozesses. Demut und Vertrauen auf die gestalterischen Kräfte der Natur sind dabei seine Werkzeuge. Er führt uns in Tempel und Höhlen, in Irrgärten und weite Landschaften. Zwillinger zeigt uns Tierwesen und engelartige Erscheinungen, Baupläne von Zellen, Atomen, Elektronen, Protonen vereinen sich in einem wirbelnden Tanz zu immer neuen Manifestationen des Unsichtbaren. In einer Architektur des Geistes findet das Selbst seine Heimat. Wie keine Schneeflocke der anderen gleicht, ist die Kreativität von Zwillingers Kunst grenzenlos. Seine „Steinbilder“ zeigen uns unendliche Varianten, geboren aus dem tiefsten Schöpfungsimpuls, aus dem alles, was ist und war, entstand. Die geschaffenen Formen kreisen um eine Mitte, einer Mitte, deren Zentrum überall und deren Grenze nirgends ist. Ewige Gesetze komponieren in immer neuen Strophen Lieder aus vergeistigter Materie. Wer es lernt, diese Lieder zu singen, fällt sicher getragen in sein eigenes Zentrum. Meditierend über das Unaussprechliche findet der Betrachter in Zwillingers „Steinliedern“ seine eigene Sprache. In einer Rotation nach Innen, immer dichter und tiefer zu werden, dazu laden uns Zwillingers Bilder ein. Im Wesentlichen Halt zu finden und aus dieser „Haltung“ das eigene komplexe Wesen zu entfalten, dieser Sehnsucht geben Thomas Zwillingers Bilder einen originellen Ausdruck.